Mohr mit Mineralien

(1)
STRUVIT

Phosphat

Chemische Formel
(NH4)Mg(PO4)·6H2O

Erste Beschreibung
1846 durch Georg Ludwig Ulex, Chemiker

Namensgebung
Benannt nach Heinrich von Struve, Diplomat und Mineraliensammler

Erstfundort
Kirche St. Nikolai, Hamburg, Deutschland

Hazen Liste
Bei Hazen et al. nicht aufgeführt, aber zu 1b. gehörig = Durch menschliche Aktivitäten unbeabsichtigt entstandene Substanz, und bekannt als durch geologische Prozesse entstandenes Mineral

Fundort
Hamburg, Deutschland

Sammlung
Senckenberg Natur­historische Sammlungen Dresden

 

Struvit bildet sich in der „Natur“ meist in Erden, die mit Viehmist, Vogel- oder Fledermauskot vermischt sind. Die vom Menschen verursachten Bildungen von Struvit finden sich in Abfallgruben, Abtritten, Abwasser- und Gülleaufbereitungsanlagen.
Struvit wurde erstmals bei archäologischen Ausgra­bungen unter der Kirche St. Nikolai in Hamburg entdeckt und im Zuge der Analyse dieser Substanz durch Georg Ludwig Ulex beschrieben. Charakteristisch sind die gut zu erkennenden sargförmigen Kristalle.
Auch Nieren- und Harnsteine des Menschen können aus Struvit bestehen – bei Kindern sind sie zu etwa 93 % Struvitsteine. Struvite können also natürlich entstandene Mineralien und ebenso durch den Menschen hervorgebrachte Mineralien sein. Der Mensch ist natürliches Wesen und, wenn man ihn denn den natürlichen Prozessen gegenüberstellen will, auch nicht-natürliche Kraft.
Künstlich hergestellter Struvit könnte in naher Zukunft als Phosphatdünger große Bedeutung für die Landwirtschaft erlangen, denn die natürlichen Phosphatreserven werden in wenigen Jahrzehnten erschöpft sein.

 

 

(2)
SERPIERIT

Sulfat

Chemische Formel
Ca(Cu,Zn)4(SO4)2(OH)6·3H2O

Erste Beschreibung
1881 durch Alfred des Cloizeaux, Mineraloge

Namensgebung
Benannt nach Giovanni Battista Serpieri, Bergbau­unternehmer in Lavrio

Erstfundort
Serpieri-Schacht, Kamariza-Gruben bei Lavrio (Laurion), Attika, Griechenland

Hazen Liste
1b. = Durch menschliche Aktivitäten unbeabsichtigt entstandene Substanz, und bekannt als durch geologische Prozesse entstandenes Mineral

Fundort
Kamaritza-Grube
bei Lavrio (Laurion), Attika, Griechenland

Sammlung
Senckenberg Naturhistorische Sammlungen Dresden

 

Zwischen den antiken Orten Thorikos und Sounion direkt an der Küste des Ägäischen Meeres befanden sich griechische Silberminen, denen die Stadt Athen in der Antike zu großen Teilen ihren Reichtum verdankte.
Im 6. Jahr­hundert v. Chr. begann der systematische Abbau der Bodenschätze. Bis zu 20.000 Sklaven wurden im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. bei der Ausbeutung der Vorkommen eingesetzt. An den mit Meerwasser in Berührung gekom­menen Verhüttungsschlacken bildeten sich vielfältige Verbindungen. Die im Umfeld der Minen gefundenen Mineralien Fiedlerit, Nealit und Georgiadesit sind bisher in keinem natürlichen Vorkommen bekannt geworden. Die hier gezeigte Stufe lässt die hellblauen Ablagerungen des Serpierit erkennen, das sich gemeinsam mit dunkelblauem Azurit am Gruben­boden absetzte und auskristallisierte.
Dieser Fundort mit seinen anthropogenen Substanzen, die durch Montanindustrie hervorgerufen wurden, gehört zu den frühesten Zeugnissen für den Einfluss des Menschen auf die mineralogische Beschaffenheit der Erde.

 

 

(3)
TSCHERMIGIT

Sulfat

Chemische Formel
(NH4)Al(SO4)2·12H2O

Erste Beschreibung
1853 durch Franz von Kobell, Mineraloge

Namensgebung
Benannt nach dem Erstfundort

Erstfundort
Čermníky (Tschermig) bei Kadaň, Böhmen, Tschechien

Hazen Liste
1b. = Durch menschliche Aktivitäten unbeabsichtigt entstandene Substanz, und bekannt als durch geologische Prozesse entstandenes Mineral

Fundort
Čermníky (Tschermig) bei Kadaň, Böhmen, Tschechien

Sammlung
Senckenberg Naturhistorische Sammlungen Dresden

 

Das Mineral Tschermigit bildet sich in der „Natur“ an vulka­nischen Dampfaustrittsstellen (Fumarolen). Seit der Mensch Kohle fördert, entsteht das Mineral auch auf brennenden Kohlenhalden und Flözen.
Die Abscheidung des Minerals erfolgt aufgrund der hohen Wasserlöslichkeit ausschließlich aus der Gasphase in sehr trockener Umgebung.
Die Verbreitung des Tschermigits verweist also, ebenso wie die Entstehung des Serpierits, auf die Bergbau­tätig­keit des Menschen, die im 18. und 19. Jahrhundert mit der industriellen Revolution weltweit stark intensiviert wurde. Damit nahm der Mensch Einfluss auf das globale Öko­system, was besonders anhand der Treibhausgase Kohlendioxid und Methan nachgewiesen werden kann.
Der Erstfundort Čermníky wurde in den 1960er-Jahren durch den Nechranice-Stausee überflutet. Die am Fundort verbliebenen Tschermigite sind vermutlich wieder verschwunden, denn die oben erwähnte Wasserlöslichkeit muss mittlerweile zu ihrer völligen Zerstörung geführt haben. Nur durch die Aufnahme in Sammlungen sind Belege von Čermníky noch heute erhalten. In Sachsen fand sich Tschermigit als Brandprodukt auf der Halde des Carola-Schachtes in Freital-Döhlen, das nur 10 km von Dresden entfernt liegt.

 

 

(4)
GODOVIKOVIT

Sulfat

Chemische Formel
(NH4)Al(SO4)2

Erste Beschreibung
1988 durch Y. P. Shcherbakova et al.

Namensgebung
Benannt nach Aleksandr A. Godovikov, russischer Mineraloge

Erstfundort
Kopeisk,
Tscheljabinsk- Kohlebecken, Russland

Hazen Liste
1b. = Durch menschliche Aktivitäten unbeabsichtigt entstandene Substanz, und bekannt als durch geo­lo­gische Prozesse entstandenes Mineral

Fundort
Grube Schoeller, Kladno, Böhmen, Tschechien

Sammlung
Senckenberg Naturhistorische Sammlungen Dresden

 

Godovikovit entsteht durch Umwandlung, im vorliegenden Fall durch Wasserentzug, aus Tschermigit, das sich auf dem Tablett rechts neben dem Godovikovit befindet.
Godovikovit kommt als natürliches Mineral in Vulkanen als auch in Form anthropogener Mineralien vor. Das hier gezeigte Mineral verdankt seine Entstehung einem Haldenbrand bei einer Kohlegrube im tschechischen Kladno. Es besitzt eine poröse Oberfläche, wie sie für technische Prozesse typisch ist. Haldenbrand-Mineralien werden heute von der International Mineralogical Association (IMA) nicht mehr als Mineralien anerkannt, da sie nur unter dem Einfluss menschlicher Tätigkeit entstehen können. Und: Es brennt nicht nur auf Halden, sondern auch in den Lagerstätten selbst. Bis vor 30 Jahren wurden unterirdische Brände noch als Naturkatastrophen gewertet. Durch Bergbau und Industrialisierung haben sie sich, Unmengen an toxischen Dämpfen und Treibhaus­gasen ausdünstend, überall auf der Erde entwickelt und sind zumeist ein menschengemachtes Problem. Denn durch Schächte und Löcher gelangt viel Sauerstoff in die Tiefe und ermöglicht die dort andauernden Verbrennungen. Bekannt sind besonders die riesigen unterirdischen Glut­herde in Nordchina oder die fast aufgegebenen Bergbaustädte Centralia oder Uniontown in den USA. In Deutschland konnten einige mittelalterliche Kohleflözbrände erst nach mehreren Jahrhunderten gelöscht werden. In Dudweiler im Saarland brennt ein Flöz seit 1668 bis zum heutigen Tag.

 

 

(5)
PHOSGENIT

Carbonat

Chemische Formel
Pb2(CO3)Cl2

Erste Beschreibung
1820 durch August Breithaupt, Mineraloge

Namensgebung
Benannt nach Phosgen (Trivialname für Kohlenoxiddichlorid bzw. Carbonylchlorid)

Erstfundort
Wahrscheinlich Cromford, Derbyshire, England, UK

Hazen Liste
1b. = Durch menschliche Aktivitäten unbeabsichtigt entstandene Substanz, und bekannt als durch geo­lo­gische Prozesse entstandenes Mineral

Fundort
Lavrio (Laurion), Attika, Griechenland

Sammlung
Senckenberg Naturhistorische Sammlungen Dresden

 

Auf dem präsentierten Stück zeigen sich, für das Auge gut sichtbar, weißliche Phosgenitkristalle auf einer bleihal­tigen Schlacke aus dem griechischen Lavrio. Phosgenit bildet sich in den Oxidationszonen von Bleierzen (Galenit) unter Einwirkung kohlensäure- und chlorhaltiger Wässer wie beispielsweise Meerwasser.
Daher wurde diese Substanz auch in den antiken, am Meer gelegenen Berg­baugruben von Lavrio entdeckt. Ein weiterer Fund stammt aus einem Schiffswrack, das 1907 vor der Küste von Mahdia / Tunesien entdeckt wurde: Das Mineral konnte sich an Bleiobjekten der versunkenen Ladung eines hellenistischen Schiffes bilden (1995 durch Kutzke et al. beschrieben). Verblüffenderweise wurden Anteile von Phosgenit auch in einigen Kosmetika und Schminken aus der Zeit der alten ägyptischen Reiche nachgewiesen. Ungeklärt ist, ob die Zutat gefunden oder eigens hergestellt wurde. Denn Phosgenit, das in der „Natur“ nur äußerst selten vorkommt, kann ohne große Mühe, allerdings mit großem Zeitaufwand, bei normalen Umgebungstem­peraturen künstlich hergestellt werden.

 

 

(6)
SKORODIT

Arsenat

Chemische Formel
Fe3+(AsO4)·2H2O

Erste Beschreibung
1818 durch August Breithaupt, Mineraloge

Namensgebung
Benannt nach skorodion, griech. für Knoblauch (Geruch durch Arsengehalt)

Erstfundort
Grube Stamm Asser bei Langenberg, Erzgebirge, Sachsen, Deutschland

Hazen Liste
1b. = Durch menschliche Aktivitäten unbeabsichtigt entstandene Substanz, und bekannt als durch geo­lo­gische Prozesse entstandenes Mineral

Fundort
Grube Schöne Aussicht, Dernbach bei Montabaur, Rheinland-Pfalz, Deutschland

Sammlung
Senckenberg Naturhistorische Sammlungen Dresden

 

Gut zu erkennen sind die grünlichen Kristalle des Skorodits auf dem dunklen Basisgestein. Skorodit, das sich natürlicherweise durch Verwitterung und Oxidation in den oberen Bereichen einer eisen- und arsenhaltigen Erzlagerstätte bildet, kann ebenso durch menschliche Aktivitäten entstehen, wenn durch Bergbau oder andere Eingriffe die Bedingungen dafür geschaffen werden.
Skorodit wurde einst zusammen mit dem Primärmineral Arsenopyrit als Rohstoff für die Herstellung von Rattengift und Insektenvernichtungsmitteln verwendet. Die anthroposophische Medizin bietet Skorodit als Beimengung zur Stärkung des Kreis­laufs an.

 

 

(7)
ETTRINGIT

Sulfat

Chemische Formel
Ca6Al2(SO4)3(OH)12·26H2O

Erste Beschreibung
1874 von J. Lehmann

Namensgebung
Benannt nach
dem Erstfundort

Erstfundort
Ettringen, Eifel, Rheinland-Pfalz, Deutschland

Hazen Liste
2a. = Durch menschliche Produktionsverfahren und Erzeugnisse entstandene Substanz, und bekannt als durch geologische Prozesse entstandenes Mineral

Fundort
Puy-de-Dôme, Auvergne, Frankreich

Sammlung
Senckenberg Naturhistorische Sammlungen Dresden

 

Ettringit ist ein Mineral, welches, neben anderen anthro­pogenen Substanzen wie Portlandit und Hillebrandit, vom Menschen weltweit und in großen Mengen produziert wird – und zwar im Beton, dem heute am häufigsten verwendeten Baustoff. Im Jahre 1824, 50 Jahre vor der Entdeckung des Minerals Ettringit durch J. Lehmann, wurde von Joseph Aspdin das erste Verfahren zur Herstel­lung von Zement entwickelt. Der englische Maurermeister Aspdin vermengte Kalk und Ton, erhitzte das Gemisch und pulverisierte es. Das Pulver rührte er mit Wasser an und erzeugte so einen Kunststein, der dem begehrten Kalkstein von der Isle of Portland ähnlich sieht. Aspdin nannte seine Erfindung deshalb Portlandzement. Erst 1890 fanden Candlot und Michaelis in diesem Portlandzement ein Mineral: den schon bekannten Ettringit, der in diesem Fall menschlich induziert ist. Diese Ettringitbildung, so stellte sich heraus, ist der wesentliche Faktor beim Abbinden von Zement. Wilhelm Michaelis beobachtete dann zwei Jahre später ein rätselhaftes Phänomen, das auf diesen Ettringit zurückzuführen ist: den zerstörerischen „Zementbazillus“. Er bildet sich, wenn alte mit gips­haltigen Steinen oder Mörteln errichtete Gebäude mit modernem Portlandzement ausgebessert werden, denn dann bildet sich durch das Eindringen sulfathaltiger Wässer aus dem Gips in den Beton erneut Ettringit. Dieser Prozess löst eine Volumenvergrößerung aus, sprengt den Verband auseinander und verursacht gefürchtete Bauschäden. Aufgrund dieser aufquellenden Eigenschaft wird Ettringit auch für gezielte, explosionsfreie Sprengungen eingesetzt.

 

 

(8)
ŠTĚPIT und VYSOKÝIT

Arsenate

Chemische Formel
Štěpit:
U(AsO3OH)2∙4H2O
Vysokýit:
U4+[AsO2(OH)2]4∙4H2O

Erste Beschreibung
2013 und 2015 durch Jakub Plášil et al.

Namensgebung
Benannt nach Josef Štěp, Bergwerksdirektor in Jáchymov und Arnošt Vysoký, Chemiker

Erstfundort
Grube Einigkeit (Svornost), Geschieber-Gang, Jáchymov, Tschechien

Hazen Liste
1a. = Durch menschliche Aktivitäten unbeabsichtigt entstandene Substanz, natürliche Vorkommen sind bisher unbekannt

Fundort
Grube Einigkeit (Svornost), Geschieber-Gang, Jáchymov, Tschechien

Sammlung
Geowissenschaftliche Sammlungen der TU Bergakademie Freiberg

 

Am steilen Südabfall des Erzgebirgskamms, im böhmischen Jáchymov, 150 km südwestlich von Dresden, entstand zu Beginn des 16. Jahrhunderts ein besonders einträglicher Silberbergbau. In den 1530er Jahren arbeiteten im neu­gegründeten Joachimsthal mehr als 9.000 Bergleute, die über 900 Zechen betrieben. Joachimsthal war nach Prag der bevölkerungsreichste Ort in Böhmen. Die Silber­produktion erreichte eine für damalige Verhältnisse enorme Jahresmenge von mehr als sieben Tonnen. Agricola (Georg Bauer), der Verfasser des „De re metallica“, dem wichtigsten Werk über den Bergbau am Beginn der Neuzeit, war in Joachimsthal Stadtarzt und Apotheker. Aus dem Jáchymover Silber prägten die Landesherren, die Grafen Schlick, ab 1519 den Schlickenthaler, den Joachimsthaler Guldengroschen. Diese weitverbreiteten, sehr reinen Silbermünzen nannte man einfach Thaler / Tolar. Heute ist dieser Name noch immer in Gebrauch: der US-Dollar, die Leitwährung der Weltmärkte, leitet sich von ihm ab.

Aus Joachimsthaler Proben von Pechblende isolierte 1792 der Chemiker Martin H. Klaproth ein bis dahin unbekann­tes Element. Er nannte es Uran. Ab 1853 kam es daraufhin in Joachimsthal zu erneuter Bergbau­tätigkeit: der Uran­gewinnung. Pierre und Marie Curie gewannen 1889 aus der Joachimsthaler Pechblende das Radium. Josef Štěp, der Namensgeber des Štěpit, begründete in Joachimsthal das weltweit erste Radon-Heilbad. Arnošt Vysoký, Namens­­geber des Vysokýit, ebenfalls Direktor der Gruben und Schmelzhütten in Jáchymov, starb mit 49 Jahren an Leukämie.

Die intensivste Phase des Uranabbaus begann aber erst nach 1945. Uran aus Jáchymov wurde für die erste sowjetische Atombombe, die RDS-1, genutzt, die 1949 in der kasachischen Steppe detonierte. Die Zündungen der Atombomben (erster Test am 16. Juli 1945 bei Alamogordo / USA) mit ihren weltweit in der Geosphäre nachweisbaren Rückständen, werden deswegen auch als ein möglicher Beginn bzw. Marker für die Epoche des Anthropozäns vorgeschlagen.

Die Uranproduktion in Jáchymov, eine der weltweit größten, wurde 1964 eingestellt, als die völlige Erschöpfung der Lagerstätten erreicht war. In der Folgezeit entwickelten sich die Bergwerkstollen von Jáchymov zu Brutkästen für zahlreiche Mineralien. Erst ab 2010 wurden die meisten seitdem dort entstandenen Mineralien entdeckt und durch J. Plášil et al. beschrieben. Die Studie von Hazen et al. listet 14 verschiedene Mineralien auf, die in Jáchymov gefunden wurden. Damit weist dieser Fundort die größte Varietät der 64 bisher beschriebenen Mineralien auf (unter 1a.), die bisher noch nie außerhalb einer vom Menschen (mit)gestalteten Umwelt gefunden wurden.

 

 

(9)
RUBIN und IGMERALD

Oxid / Silikat
künstlicher Rubin und künstlicher Smaragd

 

Chemische Formel
Rubin:
Al2O3 mit Chrom­gehalt, Varietät von Korund
Igmerald:
Be3Al2Si6O18 mit Chrom- und Vanadium­gehalt, Varietät von Beryll

Erste Erzeugung
Rubin: 1902 durch Auguste Verneuil, Igmerald: 1935 durch Hermann Espig

Namensgebung
Rubin = rot
Igmerald = Komposition
aus I.G. (Farben) und Emerald (engl. für Smaragd)

Hazen Liste
2b. = Durch menschliche Absicht erzeugte, synthetische kristalline Substanz, und bekannt als durch geologische Prozesse entstandenes Mineral

Herstellungsort
Synthetisch erzeugt von I.G. Farben und VEB Chemiekombinat Bitterfeld, Deutschland / DDR

Sammlung
Rubin: Senckenberg Naturhistorische Sammlungen Dresden
Igmerald: Geowissen­schaftliche Sammlungen der TU Bergakademie Freiberg

 

1910 wurde in den Elektrochemischen Werken in Bitterfeld, 150 km nordwestlich von Dresden, eine der ersten Fabriken zur kommerziellen Herstellung von synthetischen Edelsteinen in Betrieb genommen. Dort kam das Verneuil-Verfahren zur Anwendung, das nach dem französischen Chemiker Auguste Verneuil benannt ist. Ihm gelang es, nach vielen Jahren des Experimentierens, Rubine in Schmucksteinqualität im Labor herzustellen.
Unter natürlichen Bedingungen vergehen mehrere Jahr­hunderte, bis ein Kristall entsteht. Im Synthese­verfahren dagegen wächst der Einkristall schon nach wenigen Stunden zu beachtlicher Größe (bis zu 50 mm) heran. Mit dem Verneuil-Verfahren werden derzeit jährlich ca. 250 Tonnen Korunde und Spinelle weltweit produziert. Viele der synthetisch erzeugten Kristalle haben keine Äquivalente jenseits der industriellen Produktion. Dies trifft beispielsweise auf den YAG, den Yttrium-Aluminium-Granat zu, der die LED-Technik möglich macht, aber auch auf die REE-Magnete und Lithium-Ionen-Batterien. Künstliche Rubine sind heute Grundbestandteil der Lasertechnik.

Unter dem Motto „Heimstoffe“ erstrebten die National­­sozialisten Unabhängigkeit von nicht aus Deutschland stammenden Rohstoffen an. Im Zuge dieser Bemühungen gelang Hermann Espig 1935 in Bitterfeld erstmals die Smaragd-Synthese. Dieses schwierige Verfahren war so aufwendig, dass der synthetische Smaragd nahezu den Preis importierter Smaragde erreichte. Der Igmerald wurde deshalb nur in sehr geringen Mengen hergestellt, galt aber als Indikator für den hohen technischen Ent­wicklungsstand des Deutschen Reiches. Daher kam er nur als Schmuck­stein für extravagante „Ehrengeschenke“ für Adolf Hitler und die NS-Elite zum Einsatz.

 

 

(10)
SMARAGD

Silikat

Chemische Formel
Be3Al2Si6O18 Beryll-Gruppe

Erste Beschreibung
Seit der Antike beschrieben

Namensgebung
Sanskrit: marakatam „grün“, Akkadisch: barraqtu „Glanzstein“, Hebräisch: bâraq „blitzen“, Griechisch: smáragdos „grüner Stein“, Muzo-Sprache: „Tränen der Götter“

Fundort
Chivor / Somondoco Gruben, Kolumbien

Sammlung
Staatliche Kunstsammlungen Dresden / Grünes Gewölbe

Die Smaragdstufe ist zur Zeit im Foyer des Grünen Gewölbes ausgestellt.

 

Smaragde zählen zu den geologisch ältesten Edel­steinen. In Zimbabwe wurden beispielsweise Smaragde gefunden, die auf ein Alter von 2,6 Milliarden Jahren datiert werden. Das zeigt, wie lange Mineralien als geologische Zeitzeu­gen bestehen können.
Das Inventar der Dresdner Kunstkammer von 1587 ver­zeichnet die prächtige Mineralienstufe und beschreibt eine Bestückung mit 16 großen Smaragden. Kaiser Rudolf II schenkte sie Kurfürst August von Sachsen, während er sich 1581 in Prag aufhielt. Der Kurfürst bestimmte das edle Geschenk zum unveräußerlichen Hausbesitz der Wettiner. Jedoch ist sie nicht wirklich, wie der Kurfürst ausgerufen haben soll, ein wahrhaftiges „Naturwunder“, sondern ein Komposit. Offenbar unzureichend in ihrer natürlichen Schönheit und Ausstattung, musste das Stück für das herrschaftliche Bedürfnis nach Glanz und Glorie übernatürlich aufgewertet werden: Die Stufe wurde mit zusätzlichen Smaragden ergänzt, die in die Gesteinsstufe eingesetzt wurden – einer von ihnen hat sogar einen Schliff bekommen.
Viele Jahrhunderte lang wurden Abnehmer für Edel­steine in Europa und Asien mit Smaragden aus den ägyptischen Minen Sikait und Zubara am Roten Meer beliefert. Die spanischen Eroberer entdeckten jedoch um 1537 ein bedeutendes Smaragd-Vorkommen im kolumbianischen Chivor. Das einige Jahre später eroberte Muzo-Bergwerk lieferte dann so große Mengen, dass die ägyptischen Minen ihre Bedeutung verloren. Die Muzo-Bevölkerung wurde bis zur vorläufigen Erschöpfung der Gruben um 1640 versklavt, zum Smaragd-Abbau gezwungen und dabei nahezu ausgerottet.

Über die Hälfte aller weltweit gehandelten Smaragde kommen noch heute aus Kolumbien, wo Abbau und Handel nach mehreren „Grünen Kriegen“ (1960 –1991) mit Tau­sen­den von Toten noch immer von mächtigen, oft kriminellen Kartellen beherrscht werden.


Eine Intervention mit Rohmaterial

Kerstin Flasche

Die Figur mit Smaragdstufe ist eines der bekanntesten Ausstellungsstücke in der historischen Sammlung des Grünen Gewölbes in Dresden. Eine hölzerne, mit Goldschmiedearbeiten und Schmucksteinen verzierte Figur präsentiert auf einem Schildpatt-Tablett eine der wertvollsten Gesteinsstufen ihrer Zeit: eine Smaragdstufe, die 1581 als Geschenk in den Besitz des sächsischen Kurfürsten August gelangte. Nun wird die Smaragdstufe von dem Leipziger Künstler Bertram Haude temporär durch eine neue Stufe ersetzt, bestückt mit sogenannten anthropogenen Substanzen. Anthropogen bedeutet, dass die Entstehungsgeschichten dieser Substanzen aufs Engste mit menschlichem Wirken im Geosystem verwoben sind. Zumeist handelt es sich um unbeabsichtigte Ergebnisse menschlicher Aktivitäten im Bergbau, während andere sogar industriell produziert werden.
Chemisch gesehen sind diese anthropogenen Substanzen Mineralien. Trotzdem dürfen sie nicht so heißen, denn in der Mineralogie gilt das Kriterium, dass Mineralien „auf natürlichem Wege“ entstehen. Das macht die hier gezeigten Fundstücke, die im Folgenden als Mineralien markiert werden, zu einem zeitgenössischen Kuriosum – und das Kuriose findet in den Sammlungen des Grünen Gewölbes Dresden bekanntlich seinen Platz. Ebenso wie verkieselte Korallen, die, zwischen Pflanzen-, Tier- und Steinreich vermittelnd, in keiner Wunderkammer fehlen durften, sind auch diese Mineralien Grenzgänger, die uns die Unmöglichkeit klarer, unanfechtbarer Kategorisierungen vor Augen führen. Sie sind weder nur „natürlich“ noch vollkommen „künstlich“.
Aber was sind heute noch „natürliche Wege“? Wo hört die „Natur“ auf, die wir meinen endgültig in Setzkästen klassifiziert und konserviert zu haben? Ergibt es wirklich Sinn, die Zäsur beim menschlichen Eingriff zu setzen? Oder ist es umso mehr Zeit, das Anthropozän, die neue Erdepoche, auszurufen, die das globale menschliche Wirken als prägendsten Gestaltungsfaktor unseres Planeten beschreibt? Auf dem Tablett begegnen wir nun materiellen Zeugnissen der gewaltigen Beeinflussung des Erdsystems durch die menschliche Spezies. Doch darüber hinaus begegnen wir einer Geschichte, die ebenfalls menschengemacht ist: der Wissenschaft, die eine klare Trennung von „Natur“ und „Kul­tur“, von „natürlich“ und „künstlich“ zugrunde legt, während der Mensch paradoxerweise als natürliches Wesen und gleichzeitig als (alleiniger) Hervorbringer von Kultur gilt. Diese Mineralien fordern Wissenschaftsparadigmen he­raus.Sie rütteln an unerschütterlich geglaubten Ordnungen, an Eindeutigkeit und Trennbarkeit.

*

Die Prunk- und Schatzkammer des Grünen Gewölbes ist mit der Geschichte des Kolonialismus verzahnt. Aus postkolonialer Perspektive ist die Provenienz der originalen Smaragdstufe aus kolumbianischen Smaragdminen, die während spanischer Eroberungskriege um 1537 erschlossen wurden, problematisch. Und auch die Trägerfigur ist, nicht nur aufgrund ihrer Betitelung, sondern vor allem aufgrund rätselhafter Unstimmigkeiten zu einem viel diskutierten Untersuchungsgegenstand der zeitgenössischen Ethnologie geworden.
Sie scheint aus einem Potpourri von Merkmalen ange­legt worden zu sein, die aus europäischer Perspektive als „fremd“ und „exotisch“ galten – dunkle Haut­farbe, als „afri­kanisch“ gelesene Physiognomie, Täto­wierungen sowie Schmuckstücke, die hingegen als Reprä­sen­ta­tionsfor­men indigener Kulturen Nordamerikas gedeutet wurden. Geradezu eklektizistisch kulminieren diese schablonenhaften Merkmale in einer Figur, die so zur Ty­penfigur der „Andersartigkeit“ in der Sammlung eines europä­ischen Fürsten wird. Das Exponat ist von kolonialherrschaftlichen Me­chanismen durchdrungen – die Trägerfigur, wie auch die Smaragdstufe. Mit seinem künstlerischen Eingriff, der Auslage winzig kleiner Kristalle, legt Bertram Haude gezielt den Finger in die Wunde, denn er versieht das Exponat mit noch einer weiteren kolonialen Dimension: der geologischen – sind die anthropogenen Mineralien doch die Produkte globaler, geologischer Kolonialisierung. Künstlerische Interventionen in Sammlungspräsenta­ti­onen ermöglichen eine kritische Kon­textualisierung von Artefakten in zeitgenössischen Diskursen. Erstmals in der Geschichte des Exponats werden postkoloniale Fra­ge­stel­lungen jedoch nicht über ethnologische Zugänge – mit Blick auf die Figur – anvisiert, sondern über geologische – mit Blick auf das mineralische und mineralische „Rohmaterial“.


Wenn des Menschen Zauberfinger klopfet an der Erden Pforten

Bertram Haude

„Jetzt werden wir gewahr, daß es noch eine andere Instabilität gibt, und zwar im Naturbegriff selbst.“1

Die kulturelle Evolution des Homo sapiens entfernt sich immer schneller von der biologischen, die uns inzwischen nicht nur behäbig erscheint, sondern schon ansatzweise als überwindbar gilt. Diese kulturelle Evolution, die sich als durchgreifend technisch zu erkennen gibt, wird seit dem neuen Jahrtausend auch unter dem Begriff Anthropozän als eine Kraft beschrieben, die geologisch relevante Ausmaße angenommen hat. Mit dieser Bestimmung unserer Lage wird die Zukunft als eine nur noch technisch zu bewältigende in Aussicht gestellt. Es geht um eine durch Technik ausgeübte „naturgewaltige“ Menschenkraft, die nicht mehr allein lokale Ökosysteme beeinflusst, sondern das ganze Erdreich. Das Schlagwort Anthropozän legt nahe, dass das Menschenwesen nunmehr unter global-geolo­gischen Dimensionen zu betrachten ist, denn es findet eine wahrscheinlich irreversible Beeinflussung der gesamten Erd­oberfläche durch menschliche Aktivitäten statt.
Sicherlich stand der Mensch auch schon vor seiner einsetzenden Selbst- und Welterkenntnis immer in besonderer Interaktion mit der Erde. Doch sind die enormen Ausmaße seiner Zugriffe, die sich hauptsächlich in den letzten 150 Jahren ereignet haben, nicht mehr zu ignorieren, wenngleich die zu erwartenden Probleme heute erst ansatzweise spürbar sind. Die vom Menschen ausgehenden Veränderungen auf dem Planeten Erde sind zurzeit größer als diejenigen, die durch „natürliche“ Kräfte verursacht werden. Jedoch: Der Mensch selbst ist – „natürlich“ und „na­türlicherweise“ – eine „Natur“-kraft.
Lange Zeit glaubte man, auf der Bühne der sogenannten Natur könnten sich die menschlichen Begebenheiten abspielen, ohne dass die Bühnenausstattung auf eine Weise berührt werden könnte, die für den Menschen und alle anderen Lebewesen problematisch oder gar bedrohlich ist. In dem Moment jedoch, als man begann, den Zustand der Erdenbühne genauer zu betrachten2, schlugen die Zeiger der Messgeräte auch schon bedenklich aus. Die Erkenntnis, die dem neutral klingenden Begriff Anthropozän zugrunde liegt, ist folgende: Die Bühne und das ganze Schauspielhaus verändern sich dramatisch. Und somit wird sich auch das Bühnenstück „Menschheit“ selbst gründlich verändern. Der Oberbegriff „Große Beschleunigung“ summiert zahlreiche Explosionen in den Verlaufskurven verschiedenster Diagramme: Die menschliche Population ist immens gewachsen, die Entwaldung der Erdoberfläche schreitet massiv voran, die Versauerung der Meere scheint unaufhaltsam, Wasser- Ackerboden- Tiere- Bodenschätze und Energien werden in riesigen Mengen verbraucht, der Ausstoß von Treibhausgasen steigt noch immer an – um nur die markantesten Beispiele zu nennen.
Durch diese Entwicklungen ist das, was niemals möglich schien, eingetreten: Die unvorstellbar lange Erdgeschichte ist nun auch zu einer Geschichte einer einzigen Primatenart geworden. Die Praxis der menschlichen Einflussnahme besteht, offenbar evolutionsbedingt, im Wesentlichen in der Nutzbarmachung und Ausbeutung irdischer Ressourcen.3 Das war in den letzten 10.000 Jahren, begünstigt durch ein stabiles Klima, leicht möglich und diente lange Zeit schlicht­weg der Sicherung des eigenen Überlebens. Zwar erfasst der Mensch heute die oben aufgeführten Probleme, erkennt die in seinen Genen festsitzende Sorglosigkeit, aber trotzdem und offenbar unabänderlich wird er weiterhin von paläolithischen Reflexen heimgesucht und determiniert. Denn das menschliche Gehirn hat sich seit ca. 100.000 Jahren kaum verändert, und es wird der von ihm hervorgebrachten kulturell-technischen Dynamik kaum angemessen folgen können. Die tiefsitzenden Handlungsdispositionen beherrschen den Menschen in einem solchen Maß, dass ihm im Hinblick auf sein invasives Tun und seine regulativen Kompetenzen eine handfeste Unzurechnungsfähigkeit attestiert werden muss.4 Die technischen Systeme des Menschen und sein Einfluss auf die Erdoberfläche haben ein Ausmaß und eine Komplexität erreicht, die er nicht mehr vollständig überschaut, die er nicht mehr selbstständig erfassen und vermutlich auch nicht mehr organisieren kann. Doch will und kann er all dem nicht Rechnung tragen und notwendige Konsequenzen ziehen; die Emanzipation vom „Joch der Natur“ mit ihren Bequemlichkeiten mag er, verständlicherweise, nicht zurücknehmen. Für die komplizierten Verwaltungs- und Organisationssysteme, die der Mensch zur Aufrechterhaltung und Fortführung seiner Le­bensweise bedarf, kamen, wie Joseph Weizenbaum es aus­drückte, die Computer gerade zur rechten Zeit: Anders wäre es nicht weitergegangen.5 Die ausflüchtende Antwort heißt also stets: noch mehr Technik. Miteinander transagierende, transbiologische, pervasive, künstliche Systeme sollen und müssen zunehmend als Retter fungieren, die die Steuerung, Überwachung und Kontrolle nahezu aller Lebens- und Arbeitsbereiche übernehmen.

Im Frühjahr 2017 veröffentlichte eine Forschergruppe um den Geologen Robert M. Hazen eine Liste mit 208 „human mediated minerals“, deren Existenz also auf menschliches Handeln zurückzuführen ist. Er trennt sie von den derzeit ca. 5.300 weltweit erfassten Mineralien ab.6 Denn Mineralien sind, laut Definition der Internationalen Mineralogischen Vereinigung, „chemische Elemente“ oder „feste, definierte chemische Verbindungen“, die durch „natürliche“ geolo­gische Prozesse entstehen.7 Obwohl diese anthropogenen Substanzen bzw. synthetischen Äquivalente – die wir im Folgenden als Mineralien markieren – in ihrem Aufbau chemisch gleichartig sind, dürfen sie nicht Mineralien heißen, da sie den Passus „natürliche Entstehung“ eben nicht erfüllen. Es handelt sich bei ihnen meist um unwillentlich und zufällig durch den Menschen hervorgebrachte Substanzen. Sie werden als Zeugen der Aktivität des Homo sapiens in den erdgeschichtlichen Aufbau eingelagert und eingeschrieben. Mit dieser erstmals erstellten Übersicht wird gezeigt, dass sich die Hinterlassenschaften menschlichen Tuns nicht nur als Sedimente von Prozessrückständen im geologischen Aufbau der Erde anreichern.
Dass die Oberfläche der Erde, Pflanzen und Tiere vom Menschen manipuliert werden und dass er seine Abfälle rücksichtslos ablagert, ist hinlänglich bekannt. Aber, so erfährt man, sogar der elementare Aufbau der Erdkruste selbst wird berührt und erweitert. Eine neue Stufe in der „mineralischen Evolution“8 , und das ist eine beachtliche Notiz zur Frage nach dem Anthropozän, muss eingeführt werden: Das Vordringen des Menschen in die Erdschichten mittels Bergbau, seine Eingriffe in den Erdaufbau und in Stoffkreisläufe, die Erzeugung neuer Materialien und der Ausstoß von Abgasen – all diese Faktoren schufen die Voraussetzungen für die Mineralien. Diese bilden sich zumeist an den Wänden alter Minen, in Bergbauanlagen, bei Bränden auf Erzhalden, aber auch in Baustoffen wie beispielsweise Beton oder im Abfall. Nachweislich ist eine derart auffällige Mineralienentwicklung, so Hazens Studie, zum letzten Mal vor mehr als zwei Milliarden Jahren aufgetreten.9 Die neuen Mineralien legen also Zeugnis ab über einen markanten Eingriff des Menschen in die Erdgeschichte, die bisher über 4,5 Milliarden Jahre andauert. Die anthropo­ge­nen Substanzen sind Marker eines geradezu blitzartigen, nun-mehr geologisch zu nennenden Ereignisses auf der Erde.
Die „Natur“-Bühne ist also nicht nur Objekt der Beobachtung, Nutzung und Nachahmung. Sie ist durch menschliche Einwirkung selbst ein konstruierter Gegenstand der Kultur- und Technikgeschichte des Menschen geworden. Als „Quasi-Objekte“ bezeichnet Bruno Latour solche Entitäten, die einerseits zu konstruiert sind, um sie unter die „Natur“dinge zu zählen, die aber gleichzeitig so „naturartig“ sind, dass sie nicht als nur gesellschaftliche Konstruktion gelten können. Diese Begrifflichkeit könnte auf die Mineralien anwendbar sein.
Das Phänomen gibt es allerdings schon seit der Antike: Am bekanntesten sind die Neubildungen von Lavrio, dem alten Laurion, an der griechischen Küste nahe Athen. Dort reagierten Bergbauschlacken aus der Silber-, Blei- und Zink­­gewinnung mit Meerwasser zu neuartigen Mineralien (siehe Serpierit auf der Mineralienstufe). Neben die­sen zufälligen Produkten menschlicher Eingriffe gibt es auch jene, die absichtsvoll, synthetisch erzeugt wur­den und wer­den. Zu ihnen gehören unter anderen Kunst­stei­ne, Schmucksteine, Schleifmittel, Laser-Kristalle, Ferrit-Magnete und Batterien (siehe Ettringit, künstlicher Rubin und Igmerald auf der Mineralienstufe).
Die Menge der neuen Mineralien ist noch relativ gering. Allerdings gibt es eine kolossal wachsende Anzahl an anorganischen Verbindungen (compounds), die der Mensch absichtsvoll herstellt. Die Inorganic Crystal Structure Database in Karlsruhe führt derzeit ca. 200.000 Verbindungen auf, die jährlich um rund 6.000 weitere vermehrt werden. Die Zunahme dieser Verbindungen, die jedoch keine Mineralien sind, steht einer dramatisch abnehmenden biologischen Diversivität gegenüber. Unter all diesen neuen Materialver­bindungen werden die Mineralien zu einem besonderen stra­tigraphischen Beweis einer Zeit, in der der Mensch auf der Erde lebte, denn sie könnten noch nach Millionen von Jahren auffindbar sein. Insofern sind diese geologischen Marker wohl die dauerhaftesten Speicher einer Kultur des Menschen, denn sie reihen sich in ihrer Erscheinung ein in das, was der Mensch als Inbegriff einer ewigen, göttlich geordneten, reinen und erhabenen „Natur“ ansieht und im Grünen Gewölbe so gern bewundert: die Welt der Kristalle.

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Im Jahr 1581 kam eine mit großen Smaragden bestückte Gesteinsstufe als Geschenk Kaiser Rudolfs II an Kurfürst August von Sachsen in die fürstliche Sammlung nach Dresden. Die grünen Kristalle stammen aus den Smaragdgruben in Chivor / Somondoco, die heute zu Kolumbien gehören. Schon diese Verschiebung eines Materials – in unseren Tagen im großen Stil mit Millionen von Bruttoregistertonnen betrieben10 – könnte man einen Akt im Sinne des Anthropozänbegriffs nennen. Die Smaragdstufe, das von Kurfürst August so genannte „Naturwunder“, wird von einer hölzernen Skulptur auf einem Tablett, aus dem Rückenschild einer Meeresschildkröte gefertigt, präsentiert. Die ca. 60 cm hohe Figur ist ein Werk des Hofgoldschmieds Johann Melchior Dinglinger. Sie wurde erst in den Jahren 1723 / 1724 in Zusammenarbeit mit Balthasar Permoser geschaffen. Dieses barocke Werk ist der Idee der Wunderkammer verhaftet, denn es zeigt und versinnbildlicht das damalige Verhältnis von „Natur“ und Kunst, von naturalia und artificialia.
Bemerkenswerterweise ist aber dieser Anspruch nicht konsequent umgesetzt, denn die Smaragdstufe ist tatsächlich gar kein so vorgefundenes „echtes Naturobjekt“, sondern ein vom Menschen manipuliertes Komposit! Einzelne Smaragde sind eingeklebt, ein Stein ist sogar geschliffen. Die Gesteinsstufe ist also ein konstruiertes „Super-NaturEnsemble“, das die „Natur“, so die selbstherrliche Idee, noch übertreffen sollte. Schon in diesem Kunstgriff, in diesem Fake, wird das problematische Verhältnis des Menschen zur „Natur“, so gesehen auch zu sich selbst, sichtbar: Die „Natur“ soll mittels einer Idee von supernatürlicher Vollkommenheit nachjustiert werden.

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„Wir glauben, Rechte zu haben und haben keinerlei Rechte … Wir verfügen nur über das Unrecht.“11

Und es gibt noch mehr Ungereimtheiten: Die berühmt gewordene und aus postkolonialer Sicht abwertend als „Mohr“12 betitelte Holzfigur stellt den Tätowierungen zufolge einen indigenen Einwohner aus Florida dar, dessen Gesichtszüge aus europäischer Perspektive aber als „afrikanisch“ gelesen werden. Das mag in barocken Zeiten vielleicht belanglos gewesen sein: Wichtig war das symbolisierte „Fremde“ und „Exotische“, das dieser Repräsentant einer vermeintlich für die Weltgeschichte irrelevanten13, aber offenbar mit Reichtümern ausgestatteten Gegend für die Europäer freudestrahlend verkörpern sollte. Wie (be-)trügerisch aber ist dieser Gesichtsausdruck: 50 Jahre vor der kaiserlichen Geschenkübergabe eroberten unter G. J. de Quesada und S. de Belalcázar die Spanier weite Gebiete des heutigen Kolumbiens. Die dort lebenden Menschen wurden getäuscht, erniedrigt und unterworfen. Eine hemmungslose Aneignung von Rohstoffen, Land und menschlichem Leben setzte ein. Schätzungen sprechen von 50 Millionen Toten und einem Zusammenbruch der Landwirtschaft in Mittelamerika.14 Durch die daraufhin einsetzende Verwaldung von 65 Millionen Hektar landwirtschaftlicher Fläche sank bis Anfang des 17. Jahrhunderts der CO2-Gehalt der Atmosphäre sogar ab. Seitdem aber steigt der Kohlendioxidgehalt global immer mehr an. Lewis und Maslin schlugen deswegen diesen CO2-Knick, genauer das Jahr 1610, als den Beginn des Anthropozäns vor.15 Diese allerdings im Sinne geologischer Genauigkeit angefochtene These weist darauf hin, dass die Diskussion um das Anthropozän nicht allein auf geologische Merkmale abheben sollte: Man könnte sie auch unter sozialen und politischen Aspekten führen.
Winzige Überreste einer heute noch autark lebenden indigenen Bevölkerung in Südamerika, die als sogenannte Unkontaktierte im Amazonasgebiet leben, sind gewissermaßen, aus westlicher Perspektive und dem Begriff des sächsischen Kurfürsten folgend, selbst ein „Naturwunder“. Von diesen Unkontaktierten entziehen sich derzeit weltweit gerade noch ca. 100 Gruppierungen dem Zugriff der westlichen Zivilisation. Sie werden wahrscheinlich in absehbarer Zeit verschwunden sein. Der neue Präsident Brasiliens Jair Messias Bolsonaro verkündete bereits 2018, also schon vor seiner Amtseinführung, an das Vorgehen der Konquistadoren gegen die indigene Bevölkerung anzuknüpfen.
Die Figur präsentiert zudem in ihrer inhaltlichen Anlage und ihrer Materialität einen weiteren tragischen Verlauf von Kulturgeschichte, der uns heute, gerade wegen des akuten „Natur“-„Kultur“-Problems, umso mehr angeht. Denn nicht nur die angeeigneten Smaragde und die Indienstnahme des besiegten Artgenossen als Pagenfigur stehen symbolisch für die Ideologie einer in „Recht“ umgemünzten Gewalt: Auch Pflanzen und Tiere sind ohne Zweifel in dieses Drama, in dieses unerbittliche Bühnenstück, mit einbezogen: Das Birnbaumholz der Figur und der Schildkrötenpanzer des Tabletts künden davon.

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Als klischeeartiger Archetyp des kolonialisierten „Anderen“ steht uns der Holz-Mann scheinbar unbeschwert lachend gegenüber. Üblicherweise präsentiert er der gierigen europäischen Welt, die für ihn ja mit Schrecken und Verhängnis verknüpft ist, eine besondere Kostbarkeit seines eroberten Landes – einen Schatz der „Natur“ – wie man in Europa sagt. Nun hält er den Besuchern, die vor ihn treten um Prächtiges und Wertvolles zu besichtigen, für kurze Zeit einige von der technisierten Welt verursachten Mineralien entgegen. Und wir Betrachtenden können kaum sagen, was diese Gegenstände sind: „Natur“- oder „Kultur“objekte. Man könnte auch sagen, das „Naturwunder“ Mensch hält sich die eigene Kultur vor – es adressiert gewissermaßen einen Vorwurf an sich selbst. Zeigt hier die „erste Natur“ der „zweiten Natur“ ihre im Wirtschaftsprozess wieder zu „Natur“ werdenden Artefakte? Was da als Mineralien vor uns auf dem Tablett liegt, vor der Kulisse eines „unschuldigen“ Menschen, sind feinste Insignien, außergewöhnliche Zeugen jener zweiten „Natur“ des Menschen, in Form geologischer „Zweitna­turen“. Es sind, genau besehen, unscheinbare Geister, die in den Randbezirken und fernen Produktionsstätten unseres Reichtums heranwachsen, ähnlich den kostbaren und glänzenden Smaragden, die ebenfalls in verborgenen Kammern und Tiefen entstehen. Es sind Mineralien und doch sind es keine. Vielleicht begreifen wir auf diese Weise, was die Begriffe irrtümlich angerichtet haben und dass die menschliche „Kultur“ nie von einer als unveränderlich geglaubten „Natur“ getrennt war, und dass auch „Natur“ sich nie von uns trennen wird. Alles spielt sich auf einer einzigen Bühne ab, denn es gibt keine Trennung zwischen „Natur“ und „Kultur“ – es hat sie nie gegeben. Was vorübergehend im Juwelenzimmer des Grünen Gewölbes anstelle der mit dem Siegel der Unvergänglichkeit ausgestatteten Smaragdkristalle zu sehen ist, sind auf der „Naturkraft“ basierende, von ihr ausgehende Artefakte, die wir vorschnell der „Natur“ zurechnen möchten, die ihr aber doch nicht mehr eindeutig zugerechnet werden können. Es sind – für uns sonst außerhalb unseres Blickfeldes befindliche – Vertreter einer überall sich einstellenden „Naturkultur“ beziehungsweise einer „Kulturnatur“ – so wie wir selbst auch.
Bald, wenn uns die Folgen der unbedachten und unduldsamen menschlichen Konstitution auf die Füße fallen, werden wir genötigt sein, das ganze Schauspielhaus zur Kenntnis zu nehmen. Ja, wir könnten durch unsere Maßlosigkeit, mit der wir derzeit Gaia aufzehren, ebenso sterben wie Papst Clemens VII, der zu Pulver geriebene Edelsteine im sagenhaften Wert von 40.000 Dukaten schluckte, um dadurch sein Luxusleben zu verlängern. Er starb wenige Tage nach jener knirschenden Mahlzeit.

 

1 Bruno Latour, Kampf um Gaia, Suhrkamp, Berlin 2017, S. 66.

2 Der erste Blicke auf die Erde, die ersten Fotografien aus dem Weltall, datieren auf 1947 und liegen damit zeitlich nahezu gleichauf mit dem ersten Atombombentest 1945, einer möglichen Zeitmarkierung für das Anthropozän.

3 Nie war jedoch die ganze Menschheit blind gegenüber Naturzerstörung. Indianische Weisheiten, wie: „kein Frosch trinkt den Teich aus, in dem er lebt“, das Forstverwaltungssystem, das in Japan schon um 1700 durchgesetzt wurde, oder die 1492 in Leipzig veröffentlichte Schrift von Paul Schneevogel gegen den zerstörerischen Bergbau im Erzgebirge (Das Gericht Jupiters) zeugen beispielhaft davon.

4 „Die uns aus der Evolution der Hominiden überkommene geistige Kraft hat ausgereicht, diese Welt intuitiv zu verändern; sie scheint aber nicht auszureichen, die geänderte Welt zu verstehen und aus diesem Verstehen heraus eine Überlebensstrategie zu schaffen.“ Hans Mohr, Natur und Moral, Ethik in der Biologie, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1987, S. 104.

5 Joseph Weizenbaum, Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, Suhrkamp, Frankfurt / Main 1978, S. 48f.

6 Robert M. Hazen, Edward S. Grew, Marcus J. Origlieri, Robert T. Downs, On the mineralogy of the “Anthropocene Epoch”, American Mineralogist, Vol. 102, 2017, S. 595 – 611.

7 “A mineral substance is a naturally occurring solid that has been formed by geological processes, either on earth or in extraterrestrial bodies.” (Nickel & Grice 1998, nach Nickel 1995), The IMA Commission on New Minerals and Mineral Names: procedures and guidelines on mineral nomenclature, The Canadian Mineralogist, Vol. 36, 1998.

8 Hazen et al., Mineral Evolution, American Mineralogist, Volume 93, 2008, S. 1693 – 1720.

9 Ebd.

10 Seit dem neuen Jahrtausend fördern Staaten und Konzerne ca. 60 Milliarden Tonnen Rohstoffe pro Jahr. Baurohstoffe – hauptsächlich Sand und Kies – haben schon in den 1990er-Jahren die Biomasse als wichtigsten Rohstoff abgelöst. Siehe Jan Willmroth, Der Mensch als Ausbeuter – und Gestalter?, in: Hrsg. J. Renn / B. Scherer, Das Anthropozän, Matthes & Seitz, Berlin 2017, S. 117.

11 Thomas Bernhard, Holzfällen, Volk und Welt, Berlin 1986, S. 107.

12 Aus der Notwendigkeit sprachlicher Sensibilisierung heraus ist es uns ein Anliegen die Betitelung der Figur nicht unkommentiert zu reproduzieren. Mit der Markierung Mohr bauen wir bewusst einen Stolperstein ein, welcher der Aufklärung über den rassistischen Wortursprung dienen soll.

13 Selbst Hegel referiert noch 1823 recht unwissenschaftlich über Afrika als ein „(...) in sich gedrungen bleibendes Goldland, (...), das jenseits des Tages der selbstbewußten Geschichte in die schwarze Farbe der Nacht gehüllt ist.“ Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, 1. Band, Felix Meiner, Hamburg 1950, S. 214.

14 Nach Ankunft der Spanier in Amerika kam es zu Ausbrüchen eines bis heute nicht genau zu bestimmenden (hämorrhagischen) Fiebers und anderer Epidemien, die mehr als 95 Prozent der Bevölkerung töteten.

15 Simon L. Lewis & Mark A. Maslin, Defining the Anthropocene, Nature 519, 2015, S. 171 – 180.